Berlin, 8. April 2022

KNE-Wortmeldung

Zum Grundsatz des „überragenden öffentlichen Interesses und der öffentlichen Sicherheit“

Die geplante Neuregelung des § 2 des EEG

„Herzstück“ des Energiesofortmaßnahmenpakets des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) – so das BMWK in seiner Zusammenfassung der Kerninhalte des Pakets – ist die Verankerung des Grundsatzes, dass die Nutzung erneuerbarer Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegt und der öffentlichen Sicherheit dient.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) soll einen neuen § 2 erhalten, mit der Überschrift „Besondere Bedeutung der erneuerbaren Energien“, sein Inhalt soll lauten:

„Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen sowie den dazugehörigen Nebenanlagen liegen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit. Bis die Stromerzeugung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist, sollen die erneuerbaren Energien als vorrangiger Belang in die jeweils durchzuführenden Schutzgüterabwägungen eingebracht werden. Satz 2 gilt nicht gegenüber Belangen der Landes- und Bündnisverteidigung.“

Eine Regelung zum Vorrang von Anlagen erneuerbarer Energien aufgrund des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Sicherheit war bereits im Entwurf für die EEG-Novelle 2021 vorgesehen gewesen, wurde aber in den parlamentarischen Beratungen wieder gestrichen.

§ 2 EEG soll, laut dem Gesetzesentwurf, bereits mit der Verkündung des Gesetzes, und nicht erst nach der beihilferechtlichen Notifizierung (Genehmigung) des Gesetzes durch die EU-Kommission in Kraft treten. Hieran wird deutlich, dass die Bundesregierung dem neuen Grundsatz ein beachtliches Beschleunigungspotenzial für den Ausbau der erneuerbaren Energien beimisst. Der Paragraf selbst ist kompakt gehalten, die für seine Anwendung wesentlichen Erläuterungen finden sich in der Gesetzesbegründung.

Wen betrifft die Einführung dieses Grundsatzes?

Die Regelung hat nach KNE-Einschätzung zunächst klarstellenden Charakter. Zumeist werden Anlagen der erneuerbaren Energien von Unternehmen errichtet und dienen damit privatnützigen Interessen (Gewinnerzielungsabsicht). Gleichzeitig tragen sie aber zur Erreichung der energiepolitischen Ziele der Bundesregierung sowie der Klimaschutzziele Deutschlands und der Europäischen Union bei, dienen insofern auch einem übergeordneten öffentlichen Interesse. Der neue § 2 bekräftigt daher, dass die nachhaltige Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien einem überragenden öffentlichen Interesse dient.

Aus dem überragenden öffentlichen Interesse und dem Umstand, dass die Anlagen der erneuerbaren Energien der öffentlichen Sicherheit dienen, werden sodann rechtliche Implikationen abgeleitet. Staatliche Behörden haben dieses überragende öffentliche Interesse bei der Abwägung mit anderen Rechtsgütern zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass die Norm überhaupt nur dort Bedeutung erlangt, wo eine behördliche Abwägung durchzuführen ist. Laut der Gesetzesbegründung soll sie insbesondere bei der Windenergie an Land greifen, da hier aufgrund knapper Flächen die Ausbauziele nicht erreicht werden – mithin soll die Regelung der Windenergie zu mehr Flächen verhelfen.

Die Regelung ist zeitlich begrenzt. Sie räumt dem Ausbau der erneuerbaren Energien, bis die Stromerzeugung nahezu treibhausgasneutral gelingt, in behördlichen Schutzgüterabwägungen einen Vorrang ein.

Welche Abwägungsentscheidungen sind vom Grundsatz betroffen?

Als Abwägungsentscheidungen werden in der Gesetzesbegründung beispielhaft genannt die Belange

  • von seismologischen Stationen,
  • Radaranlagen,
  • Wasserschutzgebieten,
  • des Landschaftsbildes,
  • Denkmalschutzes,
  • Forstrechts,
  • Immissionsschutzrechts,
  • Naturschutzrechts,
  • Baurechts und
  • Straßenrechts.

Damit zielt die Regelung darauf ab, in den Abwägungsentscheidungen aus anderen Rechtsbereichen, deren Ausdifferenzierung in den jeweiligen Fachgesetzen aufzufinden ist, eine grundsätzliche Priorisierung zugunsten der erneuerbaren Energien zu erreichen.

Wie stark ist die rechtliche Wirkung des Grundsatzes?

Hier ist zunächst die Frage zu beantworten, inwieweit das EEG überhaupt in gleichrangige Gesetze „hineinregeln“ kann, beziehungsweise inwieweit die Abwägungsregelungen der Fachgesetze als „speziellere Norm“ (lex-specialis-Grundsatz) den Regelungen des EEG vorgehen.

Könnte der neue § 2 EEG eventuell ins Leere laufen?

Ausgehend von der skizzierten Normenhierarchie kann die bloß "einseitige" Festlegung im EEG nach KNE-Auffassung die Abwägungsentscheidungen in anderen Fachgesetzen nicht abschließend beeinflussen. Ändern würde sich jedoch das Gewicht des abzuwägenden Arguments. Letztlich wird aus rechtlicher Sicht auch hier abzuwarten sein, wie die Gerichte die Regelung auslegen.

Will der Gesetzgeber dieser rechtlichen Unsicherheit entgehen oder zumindest entgegenwirken, müsste der Vorrang der erneuerbaren Energien auch in den jeweiligen Fachgesetzen oder auf höherrangiger gesetzlicher Ebene entsprechend verankert werden.

Zudem: Für jene Abwägungsregelungen, die auf europäischem Recht fußen, bleiben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes maßgeblich. Eine nationale Regelung vermag europarechtliche Vorgaben nicht zu überwinden. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die EU-Vogelschutzrichtlinie relevant, die gar keine Abwägungsentscheidung aufgrund überragenden öffentlichen Interesses vorsieht. Für die Vogelschutzrichtlinie fehlt damit ein substanzieller Anknüpfungspunkt, um eine Abwägung zugunsten der erneuerbaren Energien aufgrund eines überragenden öffentlichen Interesses vorzunehmen.

Andererseits bietet die Vogelschutzrichtlinie aber die Möglichkeit der Abwägung der Belange des Vogelschutzes mit dem „Interesse der öffentlichen Sicherheit“. Hierzu liegt bereits eine KNE-Einordnung vor: Dienen Windräder der öffentlichen Sicherheit? Eine europarechtliche Einordnung - Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende. Das Interesse der öffentlichen Sicherheit hat aufgrund der sicherheitsrelevanten Bedeutung der Energieversorgungssouveränität enorm an Gewicht gewonnen.

Welche Auswirkungen hat der Grundsatz auf das besondere Artenschutzrecht?

Im Hinblick auf das besondere Artenschutzrecht ist die neue Regelung im EEG in zweifacher Hinsicht zu betrachten. Zunächst ist festzuhalten, dass im Bereich des vorhabenbezogenen Artenschutzes eine Abwägung nur in Betracht kommt, wenn eine Ausnahme von einem artenschutzrechtlichen Verbot erteilt wird.

Verbotsebene

Die „Verbotsebene“ indes lässt keinen Raum für eine Abwägung, das heißt, die artenschutzrechtlichen Verbote können nicht mit Verweis auf ein übergeordnetes öffentliches Interesse am Ausbau der erneuerbaren Energien oder auf das Interesse der öffentlichen Sicherheit überwunden werden. Dies haben wir in einer früheren KNE-Wortmeldung bereits ausgeführt: Wird die Ausnahme jetzt zur Regel? Was bedeutet es, wenn erneuerbare Energien im Interesse der öffentlichen Sicherheit liegen?

Ausnahmeebene

Die Ausnahme wiederum ist an verschiedene Voraussetzungen (Ausnahmegrund, Alternativenprüfung und Nichtverschlechterung des Erhaltungszustandes) gebunden, die kumulativ vorliegen müssen. Der Vorrang der erneuerbaren Energien allein kann nicht genügen, um die rechtlichen Anforderungen an die Erteilung einer Ausnahme zu erfüllen.

Zudem: In der Gesetzesbegründung ist – wenn auch etwas verklausuliert – festgehalten, dass andere Schutzgüter sich durchaus gegenüber den erneuerbaren Energien durchsetzen können und hier gerade kein absoluter Automatismus für einen Vorrang der erneuerbaren Energien geregelt wurde. Die relevante Passage lautet:

„Konkret sollen die erneuerbaren Energien damit im Rahmen von Abwägungsentscheidungen u. a. gegenüber seismologischen Stationen, Radaranlagen, Wasserschutzgebieten, dem Landschaftsbild, Denkmalschutz oder im Forst-, Immissionsschutz-, Naturschutz-, Bau- oder Straßenrecht nur in Ausnahmefällen überwunden werden.“

Die Neuregelung des § 2 EEG kommt damit einer widerlegbaren Regelvermutung gleich. In dem Sinne, dass die erneuerbaren Energien grundsätzlich in der Abwägung überwiegen sollen, hiergegen aber auch Gründe angeführt werden können, die zu einem Unterliegen der erneuerbaren Energien in der Abwägung führen können.

Ein denkbarer Fall, im Hinblick auf den Artenschutz, wäre die Betroffenheit von Exemplaren besonders geschützter und besonders seltener Arten, deren Verlust bereits populationsgefährdende Wirkung haben könnte. In einem solchen Fall würde das Schutzgut Artenschutz in der Abwägung stark zu gewichten sein und sich gegenüber dem öffentlichen Interesse am Ausbau der erneuerbaren Energien durchsetzen können. Ein entsprechender Nachweis über die außergewöhnliche Betroffenheit müsste allerdings – aufgrund der rechtlichen Konstruktion als Regelvermutung – für den Artenschutz erbracht werden.

Wie wirkt sich der Grundsatz auf baurechtliche Vorschriften aus?

Ausweislich der Gesetzesbegründung soll der geplante § 2 EEG auch bei der Außenbereichsprivilegierung eine zentrale Rolle spielen. Es heißt dort:

„Besonders im planungsrechtlichen Außenbereich, wenn keine Ausschlussplanung erfolgt ist, muss dem Vorrang der erneuerbaren Energien bei der Schutzgüterabwägung Rechnung getragen werden. Öffentliche Interessen können in diesem Fall den erneuerbaren Energien als wesentlicher Teil des Klimaschutzgebotes nur dann entgegenstehen, wenn sie mit einem dem Artikel 20a GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Rang gesetzlich verankert bzw. gesetzlich geschützt sind oder einen gleichwertigen Rang besitzen.“

Die Windenergie soll sich hiernach im Außenbereich gerade dann durchsetzen, wenn keine Ausschlussplanung erfolgt ist, sprich, wenn keine Flächen für die Windenergie ausgewiesen und gleichzeitig andere Flächen von der Windenergie freigehalten wurden. Zusätzlich zur Privilegierung im Außenbereich soll die Windenergie in einem solchen Fall auch in der baurechtlichen Abwägung etwaige entgegenstehende öffentliche Belange grundsätzlich überwinden. Eine Ausnahme gilt allerdings für diejenigen Belange, die verfassungsrechtlichen Rang haben bzw. gesetzlich geschützt sind. Der Erhalt der biologischen Vielfalt und die Sicherung eines artgerechten Lebens bedrohter Tier- und Pflanzenarten fallen unter den Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen, die durch Art. 20a Grundgesetz geschützt werden und können daher als Schutzgüter mit Verfassungsrang der Privilegierung im Außenbereich auch weiterhin entgegenstehen.

Eine privilegierte Zulassung von Windenergieanlagen im Außenbereich, die durch einen Vorrang der erneuerbaren Energien in der Schutzgüterabwägung zusätzlich verstärkt würde, könnte zu einer Diffusion der Anlagen über größere Bereiche führen. Eine solche Streuung würde mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch zu einer Steigerung der artenschutzrechtlichen Konflikte führen.

Aus Sicht des Artenschutzes wird eine Bündelung von Windenergieanlagen an möglichst konfliktarmen Standorten daher stets zu favorisieren sein. Innerhalb von Vorranggebieten für Windenergieanlagen ist die Abwägungspriorisierung des geplanten § 2 EEG daher auch aus Sicht des Natur- und Artenschutzes eher zu vertreten als im unbeplanten Außenbereich.

Fazit

Aus Artenschutzsicht ist die neue Regelung – gerade auch im Kontext der aktuellen energiepolitischen Herausforderungen – nicht zu beanstanden.

Die Regelung bezieht sich auf eine Vielzahl von Abwägungsentscheidungen aus unterschiedlichen Rechtsbereichen und nimmt damit auch verschiedenste Belange in den Blick. Auf diese Weise können auch die anderen, in der Gesetzesbegründung beispielhaft aufgezählten Belange durch den Vorrang der erneuerbaren Energien überwunden werden und so weitere Flächen, insbesondere für den Windenergieausbau, erschlossen werden. Hierdurch kann der Flächendruck insgesamt vermindert werden, damit auch der Druck auf artenschutzrechtlich konfliktträchtige Flächen.

Wichtig bleibt: Gewichtige Belange des Artenschutzes müssen sich auch weiterhin in der Schutzgüterabwägung durchsetzen können. Denn nur so können beide Krisen – Klima- und Biodiversitätskrise – gelöst werden.

Fachkontakt
Dr. Silke Christiansen, LL.M.
Leiterin Recht
silke.christiansen@naturschutz-energiewende.de
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