Berlin, 18. November 2020

Hinweis: Diese Wortmeldung bezieht sich auf einen Referentenentwurf. Im EEG 2021 ist der § 1 Abs. 5 EEG 2021 entfallen.

KNE-Wortmeldung Nr. 2 zur Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG 2021)

Dienen Windräder der öffentlichen Sicherheit? Eine europarechtliche Einordnung

Anlässlich der öffentlichen Anhörung zur Novelle des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes 2021 im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages setzt sich das Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende mit einigen Naturschutzaspekten des EEG 2021 auseinander.

Heute: öffentliche Sicherheit im europarechtlichen Kontext.

Der Entwurf zur Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2021 sieht vor, dass Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien im öffentlichen Interesse liegen und der öffentlichen Sicherheit dienen. In einer ersten Wortmeldung hatten wir bereits auf die strengen Voraussetzungen hingewiesen, die für die Erteilung einer Ausnahme von den artenschutzrechtlichen Verboten bei der Genehmigung einer Windenergieanlage erfüllt sein müssen. Dort hatten wir festgehalten, dass die Rolle des besonderen Artenschutzrechts in der Regelgenehmigung weiterhin unangetastet und die Ausnahme eine solche bleibt, da sie nur bei kumulativem Vorliegen ihrer strengen Voraussetzungen erteilt werden darf. Doch dient die Errichtung von Erneuerbare-Energien-Anlagen – auch aus einer europarechtlichen Perspektive – der öffentlichen Sicherheit?

Die Formulierung im neu eingefügten § 1 Abs. 5 EEG 2021 zielt unter anderem darauf ab, mehr Rechtssicherheit bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen im Bereich des Artenschutzrechts für Windenergieanlagen an Land herzustellen. Dafür ist die europäische Vogelschutzrichtlinie (V-RL) und der dort festgeschriebene Begriff der öffentlichen Sicherheit als Ausnahmegrund von den Verbotstatbeständen entscheidend. Im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) findet der Begriff eine Entsprechung, sodass sowohl die V-RL als auch das BNatSchG grundsätzlich Ausnahmen von artenschutzrechtlichen Verboten im Interesse der öffentlichen Sicherheit zulassen.

Durch den gesetzlichen Verweis im geplanten § 1 Abs. 5 EEG 2021 werden Behörden und Gerichte aufgefordert, ihren Entscheidungen auch die öffentliche Sicherheit als einen Abwägungsbelang zugrunde zu legen. Im Rahmen einer Ausnahmeprüfung wäre dies die Abwägung zwischen Artenschutz und dem Ausbau der erneuerbaren Energien.

Diese gesetzliche Zweckbestimmung wirft rechtliche Fragen auf.

Für die Auslegung europäischen Rechts und seiner Begriffe ist die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) maßgeblich. Daher muss die Festschreibung der öffentlichen Sicherheit in § 1 Abs. 5 EEG 2021 im Lichte dieser Rechtsprechung betrachtet werden.

Liegt Windenergie nach europäischer Lesart im Interesse der öffentlichen Sicherheit?

Die Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 5 EEG 2021 bezieht sich unter anderem auf die Europäische Kommission. Diese hat – bereits im Jahr 2012 – in einem Leitfaden festgestellt, dass Windparks im Interesse der öffentlichen Sicherheit stünden und deshalb Ausnahmen vom Artenschutz möglich seien (EU-Kommission, Leitfaden „Entwicklung der Windenergie und Natura 2000“, Dezember 2012, S. 20). Die Äußerungen der Kommission in Leitfäden haben allerdings lediglich empfehlenden Charakter, wie im Leitfaden eingangs selbst klarstellt wird.

Eine rechtlich verbindliche Prägung hat der Begriff der öffentlichen Sicherheit zunächst in einer Entscheidung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit aus dem Jahr 1984 erfahren. Damals wurde entschieden, dass Energieerzeugnisse (hier: Erdölerzeugnisse) wegen ihrer außerordentlichen Bedeutung als Energiequelle in der modernen Wirtschaft wesentlich sind für die Existenz eines Staates, da nicht nur das Funktionieren seiner Wirtschaft, sondern vor allem auch das seiner Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste und selbst das Überleben seiner Bevölkerung von ihnen abhängen (EuGH, Urteil vom 10. Juli 1984, 72/83, Rn. 34 juris).

Die Gesetzesbegründung des geplanten EEG 2021 bezieht sich maßgeblich auf dieses EuGH-Urteil, überträgt die Grundsätze auf die Stromversorgung und postuliert, dass die Stromversorgung für das Funktionieren der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitssystems und die Versorgung der Bevölkerung sowie für jegliche moderne Kommunikation zwingend erforderlich sei.

Im Sinne dieser Argumentation hält der EuGH in einer späteren Entscheidung, und nun auch im Hinblick auf die Stromversorgung,  für das Habitatschutzrecht eine Beeinträchtigung eines prioritären natürlichen Lebensraumtyps oder einer prioritären Art im Sinne der Habitatrichtlinie für gerechtfertigt, wenn sie der Abwehr einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr der Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaates dient (EuGH, Urteil vom 29. Juli 2019 – C-411/17 –, Rn. 158, juris).

Einer Übertragung dieser Argumentation auf die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien wird in der laufenden Diskussion zwar teils entgegengesetzt, dass die Versorgungssicherheit mit Strom auch bei einem Rückgang der Kohleverstromung gewährleistet sei, weshalb die Versorgungssicherheit an sich gar nicht gefährdet sei, wenn beispielsweise einzelne Windenergieanlagen oder auch einzelne Windparks nicht im Wege der Ausnahme genehmigt und betrieben würden. Diese Argumentation überzeugt aber nicht vor dem Hintergrund eines in relativ wenigen Jahren zu bewältigenden allumfassenden Ausstiegs aus der Kohleverstromung – möglicherweise binnen eines Jahrzehnts.

In einem anderen Kontext (freier Kapitalverkehr) legt der EuGH für die Bestimmung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit ein enges Verständnis zugrunde. Hiernach könne die öffentliche Sicherheit nur geltend gemacht werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002 – C-503/99 –, juris Rn. 47; EuGH, Urteil vom 14. März 2000 – C-54/99 –, juris). Im Hinblick auf die Sicherheit der Energieversorgung wird Letzteres in einem Urteil aus dem Jahr 2012 ebenfalls zur Bedingung gemacht (EuGH, Urteil vom 08. November 2012 – C-244/11 –, juris Rn. 67 m. w. N.).

Die aufgestellte Voraussetzung einer hinreichend schweren Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, klingt zunächst nach einer sehr hohen Hürde. Allerdings öffnet eine Auseinandersetzung mit dieser Sichtweise des EuGH auf den Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ weitere Gesichtspunkte. Denn bisher kommt in der aktuellen Diskussion zu kurz, dass die Versorgungssicherheit mit Strom aus europarechtlicher Perspektive wohl lediglich eine hinreichende Bedingung zur Einschränkung von europäischen Schutzvorschriften sein kann, es aber nicht zwingend die einzig mögliche einschränkende Bedingung sein muss.

Maßgeblich ist, dass die Interessen der öffentlichen Sicherheit dann berührt sind, wenn Grundinteressen der Gesellschaft betroffen sind. Im Hinblick auf den fortschreitenden Klimawandel werden die Grundinteressen der Gesellschaft auf mannigfaltige Weise betroffen. So werden nicht nur versorgungssichernde Aspekte und kritische Infrastrukturen berührt, sondern auch solche der menschlichen Gesundheit, der Umwelt und auch der Wirtschaft. Die Energiewende dient nicht nur der gesicherten Versorgung mit erneuerbarem Strom, sie ermöglicht auch den Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung. Im Kontext des Klimawandels gewinnt aus dieser Perspektive auch jede einzelne Windenergieanlage an Relevanz, denn hier geht es nicht „nur“ um die Versorgung der verschiedenen Sektoren eines Landes mit Strom, sondern darüber hinaus um das Einsparen von Treibhausgasen, die durch eine fossil-gestützte Energieversorgung freigesetzt würden und durch die der Klimawandel weiter fortschreiten würde. Dementsprechend räumt auch der EuGH der Förderung erneuerbarer Energiequellen aus Klimaschutzgründen und zur Diversifizierung der Energieversorgung eine hohe Priorität ein (EuGH, Urteil vom 4. Mai 2016 – C-346/14 –, Rn. 73, juris). Jede einzelne Windenergieanlage trägt zur Versorgung mit erneuerbarem Strom bei und leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Einsparung von Treibhausgasen.

Fazit des KNE

  1. Noch gibt es keine Aussage des Europäischen Gerichtshofes dazu, ob Windenergieanlagen dem Interesse der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Vogelschutzrichtlinie dienen.
  2. Der Klimawandel stellt aber eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dar, die die Grundinteressen unserer Gesellschaft berührt. Er hat mannigfaltige bedrohliche Auswirkungen, deren Faktizität von Jahr zu Jahr deutlicher wird, sodass die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Pariser Übereinkommen ein zeitgenössisches Verständnis von öffentlicher Sicherheit nachgerade gebietet.
  3. In diesem Sinne ist der Ausnahmegrund der öffentlichen Sicherheit durchaus geeignet, im Zusammenspiel mit den weiteren Regelungselementen der Vogelschutzrichtlinie und mit den übrigen Vorgaben des Europa- und Bundesrechts die Genehmigung von Windenergieanlagen in einen Einklang mit dem Schutz europäischer Vogelarten zu bringen.

 

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Dr. Silke Christiansen
Leiterin Rechtsreferat
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Windenergieanlage vor blauem Himmel