Probabilistik

Probabilistik in der Signifikanz-Bewertung

Am 11. Dezember 2020 startete die Umweltministerkonferenz (UMK) einen Arbeitsprozess, der sich mit dem „Standardisierten Bewertungsrahmen zur Ermittlung einer signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos im Hinblick auf Brutvogelarten an Windenergieanlagen (WEA) an Land – Signifikanzrahmen“ beschäftigte. Die Probabilistik wird dabei als eine Möglichkeit angesehen, diese Signifikanz methodisch neu zu bewerten und dadurch Konflikte des Artenschutzes beim Ausbau der Windenergie zu vermeiden. Die von der UMK eingesetzte Unterarbeitsgruppe Probabilistik (UAG 2) setzt sich mit den fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen probabilistischer Methoden sowie mit verschiedenen Modellen der Probabilistik auseinander. Das KNE ist Mitglied in der UAG 2.

Hier stellen wir allen Akteuren und Interessierten vom KNE begleitete Studien und weitere aktuelle Fachveröffentlichungen und Kommentierungen zum Thema zur Verfügung.

Pilotstudie „Erprobung Probabilistik“

Die Pilotstudie (Mercker et al. 2023) wurde im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erstellt. Sie wurde im Rahmen des UMK-Prozesses von der UAG 2, der das KNE angehört, federführend begleitet.

Ziel der Pilotstudie „Erprobung Probabilistik“ ist es zu klären, ob die Voraussetzungen für eine Signifikanzprüfung auf Basis eines probabilistischen Ansatzes gegeben sind. Hierfür wurden zunächst bestehende Modellansätze evaluiert und in Anbetracht des Anwendungszwecks zu einem “Hybrid-Modell“ weiterentwickelt. Für das Modell wurden mehrere zentrale Parameter benannt, die Einfluss auf die Kollisionswahrscheinlichkeit haben. Diese Parameter galt es daraufhin zu prüfen, ob die benötigten Datengrundlagen (Vogelbewegungsdaten, Witterungsdaten, Betriebsdaten der Windenergieanlagen, Habitatausstattung) für eine tragfähige Untersetzung ausreichen.

Die Datenrecherche und die Modellierung fokussierte sich aus Zeitgründen nur auf eine Vogelart - den Rotmilan. Insofern beschränken sich auch alle Erkenntnisse über die Anwendbarkeit auf diese Art. Für andere Vogelarten können soweit keine Aussagen getroffen werden.

Zu der Studie wurden in Deutsch und Englisch Zusammanefassungen erstellt:

Illustration Greifvogel vor runden Kreisen

Kurzgutachten zur Probabilistik im Auftrag des KNE

Im Auftrag des KNE wurden zwei Kurzgutachten zur Probabilistik erstellt. Sie dienen der vertiefenden Wissensbildung und Untersetzung der fachlichen und rechtlichen Einschätzung probabilistischer Ansätze zur Kollisionsrisikoermittlung. Zum Ende des Jahres 2022 wurden beide fertiggestellt.

„Probabilistik und Recht“

Prof. Dr. Wolfgang Köck, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung:

"Artenschutzrechtliches Tötungsverbot und Probabilistik. Rechtliche Aspekte der Nutzung probabilistischer Verfahren bei der Anwendung des sog. Signifikanzrahmens."

Gerichtshammer Illustration

„Effekte probabilistischer Verfahren für den Artenschutz“ 

Dr. Fränzi Korner-Nievergelt, oikostat:

„Möglichkeiten und Risiken der Probabilistik im Individuen- und Artenschutz

Grafik2

Das Kurzgutachten stellt klar, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung „rechnerischen“ Verfahren nicht entgegenstehen. Vielmehr wird der Einsatz probabilistischer Methoden auch aus rechtlicher Sicht grundsätzlich für möglich gehalten. Es bestehen allerdings unterschiedliche Auffassungen über den Anknüpfungspunkt dieser Methoden und den sich hieraus ergebenden Umfang ihres Einsatzes. Speziell die Frage, ob es für die Anwendung einer probabilistischen Methode erforderlich ist, das sogenannte Grundrisiko zu ermitteln oder nicht wird unterschiedlich beurteilt.

Nach Einschätzung des Autors ist es nicht zwingend, das Grundrisiko zu ermitteln, um probabilistische Methoden anzuwenden. Er favorisiert, das entstehende Risiko allein im Hinblick auf das Vorhaben zu ermitteln. Dies würde auch der bisherigen Praxis entsprechen, die bisher ohne einen direkten Vergleich von Grundrisiko und projektbezogenem Risiko operiert. In der Praxis werde mittels einzuhaltender Abstände zwischen Windenergieanlage und Brutplatz sowie mit der Umsetzung von Schutzmaßnahmen bestimmt, ob eine signifikante Risikoerhöhung bestehe. Dem folgend wäre der Einsatz probabilistischer Methoden sodann beispielsweise auf das Flugverhalten windenergiesensibler Vögel im Bereich des Vorhabens zu beschränken.

Eine solche Herangehensweise würde dazu führen, dass keine "neuen" Daten erhoben werden müssten, um die Methode anwenden zu können, sondern es könnte sich um Daten handeln, die für die artenschutzrechtliche Prüfung des Vorhabens ohnehin vorliegen müssten.

Zitiervorschlag:
Köck, W. (2022): Artenschutzrechtliches Tötungsverbot und Probabilistik - Rechtliche Aspekte der Nutzung probabilistischer Verfahren bei der Anwendung des sog. Signifikanzrahmen. Hrsg. KNE gGmbH, 14 S.

Das Gutachten befasst sich mit der Klärung grundlegender statistischer Begriffe wie (statistische) Signifikanz, Varianz, statistische Unsicherheit, Konfidenz, Intervallbildung und Evidenz, die für die Ermittlung und Einschätzung von Kollisionsrisiken zentral sind.

Zugleich weist die Autorin darauf hin, wie einzelne Parameter eines Studiendesigns (beispielsweise die zeitliche und räumliche Varianz der Schlagopfer und die Größe der Stichprobe) die statistische Unsicherheit beeinflussen können. Darüber hinaus stellt sie klar, dass statistische Signifikanz nicht mit Signifikanz im Sinne von „Relevanz“ oder „Bedeutung“ verwechselt werden dürfe.

Die Anwendung derartiger Modelle berge aber auch Risiken: so seien Wahrscheinlichkeitsaussagen [für Nicht-Statistiker] schwierig zu verstehen und Fehlinterpretationen nicht sicher auszuschließen. Auch würden statistisch ermittelte Werte leichter für übertragbar gehalten, auch wenn die Systeme oder Modelle, auf die sie übertragen werden, nicht übereinstimmen. Probabilistische Methoden könnten daher lokale Gutachten nicht ersetzen. Aus ihrer Sicht ist eine breite Diskussion der Modellannahmen wichtig, wie auch die Anwendung alternativer Modelle zur Überprüfung der Modellannahmen.

Abschließend stellt sie fest, dass Probabilistik geeignet sei, um Wissen über relevante Parameter wie Sterbe- oder Populationswachstumsraten zu quantifizieren sowie Konsequenzen der Veränderung der Parameter abzuschätzen. Solche Berechnungen liefern wichtige Grundlagen für Entscheide im Arten- und Klimaschutz.

Zitiervorschlag:
Korner-Nievergelt, F. (2022): Möglichkeiten und Risiken der Probabilistik im Individuen- und Artenschutz. Hrsg. KNE gGmbH, 14 S.

KNE-Podcast

Aktuelle Veröffentlichungen zum Thema

Bericht der Bundesregierung zum Prüfauftrag zur Probabilistik nach § 74 Absatz 6 Satz 1 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) (2023), 15 S.
Bericht zur Prüfung der Einführung einer probabilistischen Methode zur Berechnung der Kollisionswahrscheinlichkeit von Brutvögeln bei Windenergieanlagen an Land.
» zum Bericht

Reichenbach, M. et al. (2023): Fachgutachten zur Ermittlung des Flugverhaltens des Rotmilans im Windparkbereich unter Einsatz von Detektionssystemen in Hessen, Hrsg. Arsu GmbH, 193 S.
Das vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen in Kooperation mit dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beauftragte Forschungsprojekt untersucht das Flugverhalten des Rotmilans im unmittelbaren Windparkbereich. Beobachtungszeitraum: März bis September 2022.
» zum Gutachten

Sailer, F. (2023): Der rechtliche Rahmen für probabilistische Ansätze bei der artenschutzrechtlichen Signifikanzbewertung. In: Natur und Recht , Heft 2,  S. 78-84
Der Autor Dr. Frank Sailer sieht die Bestimmung des Grundrisikos als Anknüpfungspunkt für die Konkretisierung der Signifikanz, da hierdurch ein hinreichender Bezugspunkt für die Beurteilung des vorhabenbezogenen Risikos bestehe.
» zum Artikel (nicht frei verfügbar)

Wulfert, K. et al. (2023): Einführung einer probabilistischen Methode zur Ermittlung der signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos, 16 S.
Das Kurzpapier befasst sich kritisch mit der Entwicklung eines probabilistischen Ansatzes für die Signifikanzprüfung. Die Autr:innen weisen auf Umsetzungsprobleme und den zukünftig eingegrenzten Anwendungsbereich für Vorhaben außerhalb von Windgebieten hin. Empfohlen wird, probabilistische Ansätze für andere Anwendungsbereiche zu nutzen und weiter zu entwickeln.
» zum Kurzpapier

Ihre Ansprechpartnerin

Dr. Elke Bruns
Leiterin Fachinformation
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