Berlin, 19. September 2022

KNE-Lesetipp

Biodiversitätskrise – unterschätzt?

Isbell et al. (2022): Expert perspectives on global biodiversity loss and its drivers and impacts on people.

Neben der Klimakrise rückt die rasante Abnahme der lokalen und globalen Artenvielfalt langsam, aber sicher ins öffentliche Bewusstsein. Jüngst äußerte sich der Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermanns, in einem Interview im Guardian dazu: “We are killing species at an unprecedented rate. And killing those species will make our survival less likely. If we can get that concept into people’s minds more broadly, I am sure politicians will have to react to people’s outcry: ‘Well, fix this before you kill us.” [1] Timmermanns stützt sich dabei auf die Zahl von einer Million vom Aussterben bedrohten Arten, aus dem Global Assessment Report 2019 des IPBES (Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen).

Welchen Wert hat Artenvielfalt eigentlich, wie schützt man sie?

Sogenannte Entscheider - das meint sowohl politische Amtsträger und Amtsträgerinnen als auch Personen in Führungspositionen in der freien Wirtschaft -  stehen heutzutage oftmals vor einem Informationsdilemma. So gibt es eine Fülle an Informationen und „Experten und Expertinnen“, die den Zustand der Umwelt und insbesondere der Biodiversität vermeintlich darlegen können. Dabei besteht jedoch das große Risiko, dass hierbei auf „eingefahrene“ Mainstream-Ansichten zurückgegriffen wird, die nicht selten im konkreten Fall ineffizient, ineffektiv oder gar gänzlich kontraindiziert sind.

Mit dieser Thematik befasst sich die Studie „Expert perspectives on global biodiversity loss and its drivers and impacts on people im Fachmagazin Frontiers in Ecology and the Environment, die auf Umfragen basiert. Sie zeigt unter anderem auf, dass mehrere klar identifizierbare Schädigungsfaktoren hinsichtlich der Artenvielfalt sich gegenseitig verstärken und, dass Wissenslücken oftmals durch „Fachmeinungen“ gefüllt werden. Hierzu wird die verstärkte Konsultation von Experten und Expertinnen nahegelegt, welche einer sonst unterrepräsentierten Minderheit angehören.

Welche Informationen werden zugrunde gelegt?

Wesentlicher Hinweis der an der Studie Beteiligten vorweg: aufgrund der Komplexität der weltweiten Ökosysteme kann es keine „all-inclusive-Lösungen“ geben. Denn, insbesondere die taxonomischen und geografischen Wissenslücken seien immens. So wurde in den letzten 20 Jahren nur etwa 1 Prozent der bekannten Spezies überhaupt auf das Risiko des Aussterbens hin untersucht – diese fundamentale Unkenntnis an sich sei bereits bemerkenswert. Die befragten Fachleute gingen davon aus, dass im Mittel zirka 30 Prozent aller Spezies seit dem Jahr 1500 (auslaufendes Mittelalter) entweder bereits ausgerottet oder davon bedroht sind. In der Fachwelt bestehe Einigkeit darüber, dass die Artenvielfalt in Zukunft weiter abnehmen werde. Dementsprechend würden die Funktionsweise von Ökosystemen und die für den Menschen lebensnotwendigen sog. „ecosystem services“ (Ökosystemdienstleistungen) erheblich beeinträchtigt. Durch die Befragung von bisher „vernachlässigten“ Perspektiven und wenig betrachteten Lebensräumen, spreche vieles für eine deutliche Negativkorrektur der bisherigen Prognosen. Hervorzuheben sei in diesem Zusammenhang, dass vermehrt weibliche Expertinnen und solche des „globalen Südens“ zu divergierenden Einschätzungen und Erkenntnissen kämen. Ihre Stimmen seien daher besonders wertvoll, um Wissenslücken besser zu schließen.

Weiterhin gehen einige Experten davon aus, dass durch eine gezielte und nachhaltige Steigerung der Bemühungen für einen wirksamen Artenschutz zumindest eine von drei gefährden Arten bis zum Jahr 2100 gerettet werden könnte. Das herkömmliche Schutzprinzip: Ein Schutzgebiet definieren und vorwiegend dort Artenschutz betreiben – hat sich jedoch als nicht wirkungsvoll genug herausgestellt.

Fazit

Die anspruchsvolle Wissenschaftsstudie liefert eine breit zugängliche und qualitativ hochwertige Entscheidungshilfe in Umwelt- und Biodiversitätsfragen. Die Studie ist mit Illustrationen und Darstellungen gut verständlich aufbereitet. Die Botschaft an die Leserschaft: „Wir drehen uns selbst den Hahn ab“ – sehr salopp ausgedrückt. Viele der Kern-Erkenntnisse decken sich mit bisher bekannten Tendenzen, nämlich, dass der Artenschutz in seiner aktuellen Form nur unzureichende Wirkung entfaltet – die Gründe differieren hierbei je nach Region bzw. Lebensraum. Sehr positiv und hilfreich ist die aufgezeigte Förderung einer pluralistischen Expertenkultur. Durch die Anhörung von bisher unterrepräsentierten Experten und Expertinnen könnten die (politischen) Wissenslücken ggf. deutlich wirkungsvoller geschlossen werden. Darüber hinaus dürfte eine inklusive Entscheidungskultur in Umweltfragen tendenziell die Akzeptanz der jeweiligen Strategien stärken. [1] „Wir vernichten Arten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Wenn wir diese Arten töten, wird unser Überleben unwahrscheinlicher. Wenn es uns gelingt, dieses Bewusstsein zu schärfen, werden die Politiker sicher auf den Aufschrei der Menschen reagieren müssen: Bringt das in Ordnung, bevor ihr uns umbringt.“

Quelle:  Isbell et al. (2022): Expert perspectives on global biodiversity loss and its drivers and impacts on people. 10 S.

Wilde Wiese, Bild von David Seifert auf Pixabay
Foto: David Seifert auf Pixabay