Frage
Inwieweit müssen Wechselhorste besonders geschützter Vogelarten berücksichtigt werden, wenn sie nach der Erteilung einer Genehmigung für eine Windenergieanlage an Land und vor Baubeginn dieser Anlage in unmittelbarer Nähe (unter 500 m) zur geplanten Anlage entdeckt werden? Welche Behörde ist für das weitere Vorgehen zuständig, und käme zu diesem Zeitpunkt auch eine Ausnahme in Betracht?
Vollständige Antwort
Für den Fall, dass nach Genehmigungserteilung und vor Baubeginn ein artenschutzrechtlicher Konflikt auftritt, gibt es verschiedene rechtliche Lösungsmöglichkeiten. Je nach Herangehensweise ist entweder die Genehmigungsbehörde oder die Fachbehörde zuständig.
Die Erteilung der Genehmigung bewirkt grundsätzlich die Legalisierung des Vorhabens. Diese „Legalisierungswirkung“ bietet einem privaten Vorhabenträger Vertrauensschutz und Investitionssicherheit. Letzteres ist grundrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abgesichert. Aufgrund dieser Grundrechtsrelevanz bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage, wenn die Legalisierungswirkung der Zulassungsentscheidung nachträglich durchbrochen werden soll.
1. Widerspruch
Solange gegen eine Genehmigung noch Widerspruch eingelegt werden kann, können artenschutzrechtliche Konflikte auch durch Dritte, beispielsweise durch eine Umweltvereinigung, gerügt werden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Genehmigung rechtmäßig ist oder nicht, ist sodann der Erlass des Widerspruchbescheides. (Lau 2018, S. 840)
Wird durch das nachträgliche Einwandern besonders geschützter Arten ein unüberwindbarer (das heißt nicht durch Nebenbestimmungen abwendbarer) artenschutzrechtlicher Konflikt ausgelöst, so ist die Genehmigung im Widerspruchsverfahren aufzuheben. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Widerspruchsführer im Hinblick auf die Vorschriften des besonderen Artenschutzrechts rügeberechtigt ist. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) steht den Umweltvereinigungen ein breites Rügerecht zu. Sie können jede Zulassungsentscheidung rügen, die unter Anwendung umweltbezogener Rechtsvorschriften zustande gekommen sind.
Ein Widerspruch ist innerhalb der Monatsfrist gemäß § 70 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) möglich. Wenn die rügende Umweltvereinigung allerdings keine Kenntnis von der Genehmigung hat und auch keine Kenntnis haben konnte, läuft eine Jahresfrist für den Widerspruch nach § 58 Abs. 2 VwGO analog.
Geht man davon aus, dass eine Genehmigung bestandskräftig geworden ist, sind die im Folgenden beschriebenen Handlungsmöglichkeiten der Behörde in Erwägung zu ziehen, wenn nach Genehmigungserteilung ein artenschutzrechtlicher Konflikt entsteht.
2. (Teil-)Widerruf
In Betracht käme ein (Teil-)Widerruf der Genehmigung. Dieser ist in § 21 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) geregelt. Das BImSchG bietet damit eine Möglichkeit, artenschutzrechtlichen Konflikten zu begegnen, nachdem die immissionsschutzrechtliche Genehmigung bestandskräftig geworden ist. Zu beachten ist, dass die Beweislast für das Vorliegen eines artenschutzrechtlichen Konflikts, auch nachdem die Genehmigung erteilt wurde, bei der Behörde liegt. (vgl. Louis 2009, 91 (99.)
2.1 Widerrufsgrund
Nach § 21 Abs. 1 BImSchG können rechtmäßige Genehmigungen mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn ein Widerrufsgrund vorliegt. Hierfür bietet § 21 BImSchG fünf verschiedene Widerrufsgründe, wobei vorliegend die Nr. 3 einschlägig sein könnte.
Der Widerrufsgrund Nr. 3 behandelt nachträglich eingetretene Tatsachen. Hierunter fallen auch die Änderungen in der Umgebung der Anlage, insbesondere natur- und artenschutzrechtlich relevante Veränderungen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Wenn beispielsweise nachträglich nicht geklärt werden kann, ob der Wechselhorst einer besonders geschützten Vogelart bereits bei Genehmigungserteilung vorhanden war und übersehen wurde, oder ob er erst nach Genehmigungserteilung entstanden ist, könnte dies eine nachträglich eingetretene Tatsache sein. Voraussetzung ist allerdings, dass der Horst der Genehmigungsbehörde bei Genehmigungserteilung nicht bekannt war.
Nachträglich eingetretene Tatsachen sind nämlich auch nachträglich gewonnene Erkenntnisse über Tatsachen. Da die Verwaltung sich nur am Wissen über Tatsachen und nicht an unbekannten Fakten orientieren kann, sind Erkenntnisfortschritte „nachträglich eingetretene Tatsachen“ im Sinne der Nr. 3. (vgl. Führ 2016, § 21 Rn. 32 m. w. N.) Der (Teil-)Widerruf einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG aus artenschutzrechtlichen Gründen setzt daher nicht zwingend den Nachweis voraus, dass der artenschutzrechtliche Konflikt erst nach Genehmigungserteilung eingetreten ist. (Lau 2018, S. 843, kritisch hierzu: Rohmer/Landmann et al. 2019, BImSchG § 2, Rn. 34) Dabei muss es sich um Tatsachen handeln, die gemäß § 6 BImSchG die Ablehnung der beantragten Genehmigung und nicht nur die Beifügung von Nebenbestimmungen gerechtfertigt hätten.[1] (Rohmer/Landmann et al. 2019, BImSchG § 2, Rn. 32) Wenn ein Horst aber in unmittelbarer Nähe zu einer Anlage liegt (unter 500 m), wäre es nicht möglich die Genehmigungsfähigkeit durch Beifügen von Nebenbestimmungen herzustellen (hierzu unter 4.).
2.2 Öffentliches Interesse
Neben den nachträglich eingetretenen Tatsachen verlangt § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG, dass ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde. Hier genügt die nachhaltige Betroffenheit wichtiger Rechtsgüter. Bei der Einhaltung der Zugriffsverbote des besonderen Artenschutzrechts handelt es sich um ein solches gewichtiges öffentliches Interesse. (VG Oldenburg, Beschluss vom 07. Juli 2011 – 5 B 1433/11 –, Rn. 6, juris; VGH Mannheim, Beschluss vom 29. November 2016 – 5 S 2137/16 –, Rn. 15, juris)
Bestehen sonstige Konfliktlösungsmöglichkeiten, ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorrangig hiervon Gebrauch zu machen, wenn diese den Anlagenbetreiber weniger belasten und der angestrebte Zweck, also die Einhaltung der Vorgaben des besonderen Artenschutzrechts, hiermit ebenfalls erreicht werden. In Betracht kämen etwa Maßnahmen zur Aufwertung der Habitate bzw. Habitatbereiche außerhalb des Wirkraums der Anlage und/oder eine Horstverlegung. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an eine Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatSchG. (Lau 2018, S. 843)
Diese Maßnahmen lassen sich allerdings nicht auf § 21 Abs. 1 BImSchG stützen. Diese Norm hat als Rechtsfolge eine rechtsvernichtende Wirkung und ist keine Rechtgrundlage für den nachträglichen Erlass von Nebenbestimmungen. Für nachträgliche immissionsschutzrechtliche Anordnungen kann § 17 Abs. 1 BImSchG herangezogen werden. § 17 Abs. 1 BImSchG bietet allerdings keine Rechtsgrundlage für die Anordnung artenschutzrechtlicher Maßnahmen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm, der sich ausschließlich auf die Erfüllung von Pflichten aus dem Immissionsschutzrecht bezieht.
Die entsprechenden Maßnahmen lassen sich auch nicht auf § 12 Abs. 1 BImSchG stützen, da dieser nur den Erlass von Nebenbestimmungen im Genehmigungsverfahren ermöglicht und nicht für nachträgliche Nebenbestimmungen herangezogen werden kann. Ein Auflagenvorbehalt nach § 12 Abs. 2 a BImSchG muss im Rahmen der Genehmigungserteilung vereinbart werden. Wenn ein entsprechender Auflagenvorbehalt vereinbart wurde, können hierauf auch nachträglich angeordnete Maßnahmen fußen.[2]
Entsprechende Maßnahmen ließen sich für den Fall, dass kein Auflagenvorbehalt vereinbart wurde auf die naturschutzrechtliche Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG stützen. (hierzu unter 4.)
2.3 Rechtswirkungen des Widerrufs
Die Genehmigung wird gemäß § 21 Abs. 3 BImSchG aufgrund eines Widerrufs unwirksam. Die Genehmigungsbehörde hat für den Widerruf eine Frist von einem Jahr, ab Kenntnis des Widerrufsgrundes (§ 21 Abs. 2 BImSchG).
Widerruft die Genehmigungsbehörde die Genehmigung ist sie zum Ausgleich des Vermögensschadens verpflichtet, der aufgrund des schutzwürdigen Vertrauens auf die Genehmigung entstanden ist. Dieser Vertrauensschaden umfasst das sogenannte „negative Interesse“. Der Vertrauensschaden ist aufgrund hypothetischer Erwägungen derjenigen vermögenswirksamen Entscheidungen zu ermitteln, die der Betreiber getroffen oder unterlassen hätte, wenn er von Beginn an mit dem erfolgten Genehmigungswiderruf gerechnet hätte. Wenn sich die Anlage noch nicht amortisiert hat, kann angenommen werden, dass die Investition als Ganzes nicht getätigt worden wäre. Daher ist die Investition als Ganzes abzüglich des Restwertes der Anlage sowie der üblichen Kapitalrendite als Vertrauensschaden anzusehen. (vgl. Führ 2016, § 21 Rn. 83) Entschädigungspflichtig ist grundsätzlich die Genehmigungsbehörde gemäß § 21 Abs. 4 S. 1 BImSchG, soweit die Länder keine anderen Bestimmungen nach § 21 Abs. 5 BImSchG getroffen haben. Die Entschädigung erfolgt gemäß § 21 Abs. 4 S. 1 BImSchG nur auf Antrag des Betroffenen und nur innerhalb der Jahresfrist nach § 21 Abs. 4 S. 4 BImSchG.
3. Rücknahme der Genehmigung nach § 48 VwVfG
Genehmigungen, die erteilt wurden, obwohl die Genehmigungsvoraussetzungen zum Genehmigungszeitpunkt nicht vorgelegen haben, sind rechtswidrig und können zurückgenommen werden. Für diese Fallkonstellation bietet das Bundes-Immissionsschutzgesetz keine eigene Regelung, weshalb auf das allgemeine Verwaltungsrecht zurückzugreifen ist. Auch hier ist ein Ausgleich des Vermögensnachteils, der durch das Vertrauen auf die Genehmigung entstanden ist, zu leisten. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse zu ermitteln.
Eine Rücknahme kommt beispielsweise in Betracht, wenn die Genehmigungsbehörde ein fehlerhaftes artenschutzrechtliches Gutachten zugrunde gelegt hat. Sodann bestand bereits bei Genehmigungserteilung ein Rechtsverstoß.
Legt die Genehmigungsbehörde fehlerhafte oder falsche Angaben des Antragstellers zugrunde, kommt ebenfalls eine Rücknahme in Betracht, allerdings dürfte in dieser Konstellation das Vertrauen des Betroffenen nicht schutzwürdig sein, weshalb es zu keinem Vermögensausgleich käme.
4. Maßnahmen nach § 3 Abs. 2 BNatSchG
§ 3 Abs. 2 BNatSchG bietet eine Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung weniger belastender Maßnahmen als (Teil-)Widerruf und Rücknahme der Genehmigung.
Ein ordnungsrechtliches Einschreiten gegen unmittelbar drohende Gefahren ist der Behörde trotz der Legalisierungswirkung der Genehmigung stets möglich, da die Verursachung derartiger Gefahren nicht von der Legalisierungswirkung gedeckt ist. (Lau 2018, S. 841) Für ein ordnungsrechtliches Einschreiten der Behörde muss grundsätzlich eine konkrete Gefahr vorliegen.[3] Um zu beurteilen, ob eine Gefahr für die Schutzgüter im Zuständigkeitsbereich der Behörde vorliegt, muss sie ein tragfähige Prognose treffen, ob aufgrund der bekannten Tatsachen der Eintritt einer Gefahr zu besorgen ist oder ob dies fernliegt. (VG Berlin, Urteil vom 25. August 2016 – 1K 318/14, Orientierungssatz Nr. 3, juris) Wenn lediglich der Verdacht einer Gefahr gegeben ist, kann die Behörde Maßnahmen zur Gefahrerforschung[4] ergreifen.
Bei einem geringen Abstand zwischen Horst und Windenergieanlage (unter 500 m) ist ein unmittelbares ordnungsbehördliches Einschreiten der Fachbehörde regelmäßig denkbar. Eine konkrete Gefahr besteht, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Normverstoßes gegeben ist; beispielsweise gegen die Zugriffsverbote des § 44 Abs. 1 BNatSchG. (VG Oldenburg, Urteil vom 6. Dezember 2017 – 5 A 2869/17, Rn. 49)
Im Hinblick auf das Tötungsverbot, gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, muss die Behörde eine signifikante Erhöhung der Gefahr durch den Weiterbetrieb der Windenergieanlage nachweisen. Grundsätzlich wird die signifikante Erhöhung der Tötungsgefahr anhand mehrerer Faktoren bestimmt (vgl. zu den Voraussetzungen BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2011 – 9 A 12.10 -, juris, Rn. 99).
- Es muss sich um eine Tierart handeln, die aufgrund ihrer artspezifischen Verhaltensweise gerade im Bereich der Windenergieanlage ungewöhnlich stark von deren Risiken betroffen ist (generell schlaggefährdete Spezies). Eine Liste der windenergiesensiblen und kollisionsgefährdeten Arten wird von den Ländern zum Teil vorgehalten. (beispielsweise: LUBW 2020, S. 20)
- Es müssen sich die von den Windenergieanlage bedrohten Individuen vermehrt im Gefährdungsbereich der Windenergieanlage aufhalten (individuelle Gefährdungslage). Um die Gefährdungslage einzuschätzen, stellen die Länder regelmäßig auf bestimmte Radien ab, die bei Unterschreitung ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko indizieren. (ebenda mit Beispielen)
- Maßnahmen der Risikominimierung sind bei der Beurteilung der Signifikanz einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 09. Juli 2008 – 9 A 14/07, Rn. 64, 91, juris; VG Kassel, Urteil vom 02. März 2016 – 1 K 602/13.KS, Rn. 65, juris). Bei einem sehr geringen Abstand zwischen Horst und Anlage kommen lediglich umfassende Abschaltungen in Betracht. Lenkungsmaßnahmen, die die Flugaktivität im Umfeld der WEA herabsetzen sollen, sowie die unattraktive Gestaltung des Mastfußes, dürften indes keine geeignete und wirksame Maßnahme sein. Aufwertungsmaßnahmen in weiterer Entfernung von der Anlage zur Lenkung der Nahrungssuche in andere Bereiche dürften ebenfalls nicht geeignet sein und bei einer geringen Distanz zwischen Horst und Anlage ebenfalls keine ausreichende Wirksamkeit erzielen.
Aus fachlicher Sicht wird daher aktuell auch empfohlen, den unmittelbaren Bereich um den Horst (unter 500 m) von der Windenergie freizuhalten. Eine Einzelfallprüfung, im Wege der Raumnutzungsanalyse sei hier regelmäßig nicht möglich. (Sprötge et al. 2018, S. 140 f.)
Wenn eine konkrete Gefahrenlage vorliegt, ist für ein Einschreiten die Naturschutzbehörde und nicht die Genehmigungsbehörde zuständig. Da die Genehmigung abgeschlossen ist, ist damit auch die Konzentrationswirkung beendet. Die Zuständigkeit fällt nach Ende der Konzentrationswirkung an die Fachbehörde zurück.
Die Fachbehörde kann Maßnahmen zur vorläufigen Abwehr unmittelbarer Gefahren auf die Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG stützen (z. B. Anordnung einer vorübergehenden Abschaltung von Anlagen zur akuten Gefahrenabwehr). Nicht zulässig sind auf dieser Grundlage hingegen – ohne vorhergehenden Teilwiderruf der Genehmigung durch die Immissionsschutzbehörde – Anordnungen, die in den genehmigten Bestand eingreifen. (hierzu: VG Würzburg, Urteil vom 22.01.2019 – W 4 K 17.987 – Rn. 42, 43, juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 13. März 2019 – 12 LB 125/18 –, Rn. 39 ff.) Das gilt insbesondere für dauerhafte Betriebseinschränkungen von Windenergieanlagen, insbesondere, wenn diese jährlich wiederkehren sollen, beispielsweise zu den Brutzeiten der betroffenen Art.
Das nach § 3 Abs. 2 BNatSchG mögliche Maßnahmenspektrum ist daher begrenzt auf Einzelfallmaßnahmen zur Abwendung einer konkreten Gefahr. Die Wahl der Maßnahme obliegt der Behörde. Die Maßnahme muss indes verhältnismäßig sein. Bei mehreren gleich wirksamen Maßnahmen hat die Behörde diejenige Maßnahme zu wählen, die den Adressaten am wenigsten beeinträchtigt
5. Horstverlegung als Alternative?
Denkbar wäre es auch, einen Wechselhorst zu verlegen, der sich in unmittelbarer Nähe zu einer (geplanten) Windenergieanlage befindet. Ein Vogelhorst ist aber auch als nicht besetzter Wechselhorst eine geschützte Fortpflanzungs- und Ruhestätte im Sinne des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG. (vgl. hierzu: Landmann und Rohmer 2020 § 44, Rn. 18 m. w. N.) Der Schutz besteht solange bis die Fortpflanzungs- und Ruhestätte endgültig aufgegeben wurde. Zum Teil haben die Länder zur Konkretisierung der Schutzfirst sogenannte Horstschutzfristen in Horstschutzverordnungen erlassen, die bestimmen wie lange ein Horst nicht besetzt sein muss, um nicht mehr unter den Lebensstättenschutz des BNatSchG zu fallen.
Die Verlegung eines Wechselhorstes in einen Bereich außerhalb des Risikobereichs (beispielsweise 1.000 Meter Radius) könnte so ausgeführt werden, dass diese nicht zwingend mit der Beschädigung oder Zerstörung der Fortpflanzungsstätte einhergeht, die gleichsam verboten wären gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG .
Eine Verlegung verstößt darüber hinaus auch nicht zwingend gegen das Entnahmeverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG. So liegt nach Müller-Walter (in: Lorz et al. (2013), § 44 Rn. 24) keine Entnahme aus der Natur vor, wenn die Lebensstätte nur umgesetzt und der neue Standort von den Tieren akzeptiert wird (zustimmend Lau in: Frenz und Müggenborg (2016), § 44 Rn. 23 a. E.). Ein Verstoß liegt auch hier nicht vor, wenn die ökologische Funktion weiter erfüllt wird.
Da allerdings auch die Horstverlegung mit fachlichen Risiken behaftet ist (es ist nicht von vornherein zu prognostizieren, mit welcher Sicherheit der Horst angenommen wird), kann es zur rechtlichen Absicherung erforderlich sein, vorsorglich eine Ausnahme einzuholen.
6. Ausnahme
Eine Ausnahme kann auch nachträglich noch gewährt werden. Hier kämen zwei verschiedene Möglichkeiten in Betracht.
- Nachträgliche Ausnahme vom Tötungsverbot für die Genehmigung der betreffenden Anlage,
- Horstverlegung und nachträgliche Ausnahme für den Fall, dass die Horstverlegung nicht erfolgreich sein sollte.
Für die Erteilung einer Ausnahme müssen ihre strengen Voraussetzungen vorliegen. Das bedeutet, es muss nach § 45 Abs. 7 BNatSchG ein Ausnahmegrund vorliegen, es dürfen keine zumutbaren Alternativen gegeben sein und der Erhaltungszustand der Population der Art darf sich durch die Erteilung der Ausnahme nicht verschlechtern.
Grundsätzlich muss bei der Ausnahme eine Abwägungsentscheidung getroffen werden. Hierfür hat das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz in Baden-Württemberg entsprechende Hinweise erstellt. (MLR BW – Ministerium für ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg 2015, S. 9 f.)[5]
Für die Erteilung einer Ausnahme würde beispielsweise die Betroffenheit lediglich eines Individuums sprechen. Inwieweit die Art generell als gefährdet gilt, wird in Baden-Württemberg ebenso beachtet (LUBW 2013, S. 28), wie die Frage, ob es sich um eine Rote-Liste Art handelt, oder ob eine hohe Verantwortlichkeit[6] Baden-Württembergs für die Erhaltung der Art besteht. Der Populationstrend ist gleichsam zu berücksichtigen (LUBW 2013, S. 228).
In Bezug auf die Belange der Windenergie sind insbesondere die Windhöffigkeit des Planungsstandortes, die Anzahl der möglichen Windenergieanlagen, sowie die Erschließungssituation zu berücksichtigen. (ebenda) Besonderes Gewicht kommt dabei der Legalisierungswirkung und damit dem Vertrauens- und Investitionsschutz des Genehmigungsinhabers zu, wenn bereits eine Genehmigung erteilt wurde. Die Erteilung einer nachträglichen Ausnahme müsste argumentativ entsprechend abgesichert sein.
Quellen
[1] Es liegt allerdings kein Erkenntnisfortschritt im Sinne einer nachträglich eingetretenen Tatsache vor, wenn die Verwaltung sich mit seinerzeit bereits bekannten Erkenntnissen nachträglich vertraut machte. In solchen Fällen ist der Verwaltungsakt gegebenenfalls rechtswidrig und es ist eine Rücknahme nach § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) in Betracht zu ziehen. (Führ 2016, § 21 Rn. 32 m. w. N)
[2] Die Beifügung eines Auflagenvorbehaltes für zukünftige artenschutzrechtliche Konflikte dürfte aufgrund der Unbestimmtheit vielfach nicht rechtmäßig sein. Für die Ausübung eines bestandskräftigen Auflagenvorbehaltes kommt es aber auf die materielle Rechtmäßigkeit nicht an, sodass dieser wirksam und für den Betreiber verpflichtend bleibt.
[3] Nach einer anderen Meinung reicht eine abstrakte Gefahr aus, um Maßnahmen auf § 3 Abs. 2 2. HS BNatSchG zu stützen. § 3 Abs. 2 2. HS BNatSchG ziele auf die Sicherstellung der Einhaltung des Naturschutzrechts ab, daher genüge eine abstrakte Gefahr. Dies folge aus dem Wortlaut der Norm, da diese – anders als die sicherheitsrechtlichen Generalklauseln – gerade nicht auf eine besondere Gefahrenlage abstelle. (vgl. Müller-Walter in Lorz, Konrad et al. (Hrsg.) 2013 § 3 Rn. 7)
[4] Die sonderordnungsrechtliche Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG ermächtigt die Naturschutzbehörden auch zur Anordnung von Gefahrerforschungsmaßnahmen. Vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.10.2015 – 4 ME 229/15
[5] Die artenschutzrechtlichen Leitfäden befinden sich in Baden-Württemberg derzeit in Überarbeitung.
[6] Dies ist die geringste Stufe der Verantwortlichkeit, es folgen sehr hohe und extrem hohe Verantwortlichkeit.
Führ, M. (2016): GK-BImSchG – Gemeinschaftskommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz. Carl Heymanns Verlag, Köln. 1848 S.
Rohmer/Landmann, Beckmann, M., Durner, W., Mann, T., Röckinghausen, M. (2020): UmweltR – Umweltrecht – Kommentar. Band I-I. 91. C.H. Beck-Verlag, München. 12000 S.
Lau, M. (2018): Einwandern besonders geschützter Arten in den Gefahrenbereich von Vorhaben nach Genehmigungserteilung. Natur und Recht 40 (12). S. 840–845.
Lorz, A., Konrad, C., Mühlbauer, H., Müller-Walter, M.H., Stöckel, H. (2013): NaturschutzR – Naturschutzrecht. Beck`sche Kurz-Kommentare 41. 3. Auflage. C.H. Beck-Verlag, München. 952 S.
Louis, H. W. (2009: Die Zugriffsverbote des § 42 Abs. 1 BNatSchG im Zulassungs- und Bauleitplanverfahren – unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerwG zur Ortsumgehung Bad Oeynhausen. Natur und Recht 31. S. 91-100.
LUBW − Landesanstalt für Umwelt Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (2020): Hinweise für den Untersuchungsumfang zur Erfassung von Vogelarten bei Bauleitplanung und Genehmigung für Windenergieanlagen (Gilt ausschließlich für die Kartiersaison 2020). Karlsruhe. 24 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 24.08.2020).
LUBW − Landesanstalt für Umwelt Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (2013): Rote Liste und kommentiertes Verzeichnis der Brutvogelarten Baden-Württembergs. Karlsruhe. 239 S. Link zum Dokument: (letzter Zugriff: 24.08.2020)
MLR BW – Ministerium für ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (2015): Hinweise zu artenschutzrechtlichen Ausnahmen vom Tötungsverbot bei windenergieempfindlichen Vogelarten bei der Bauleitplanung und Genehmigung von Windenergieanlagen. Stuttgart. 22 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 24.08.2020).
Sprötge, M., Sellmann, E., Marc, R. (2018): Windkraft Vögel Artenschutz. Ein Beitrag zu den rechtlichen und fachlichen Anforderungen in der Genehmigungspraxis. Books on demand, Norderstedt. 229 S.
Gerichtliche Entscheidungen
BVerwG, Beschluss vom 13.03.2008 – 9 A 10.07.
BVerwG, Urteil vom 09. Juli 2008 – 9 A 14/07.
BVerwG, Urteil vom 18.03.2009 – 9 A 39.07.
VG Oldenburg, Beschluss vom 07. Juli 2011 – 5 B 1433/11.
BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2011 – 9 A 12.10.
VG Kassel, Urteil vom 02. März 2016 – 1 K 602/13.KS.
VG Berlin, Urteil vom 25. August 2016 – 1K 318/14.
VGH Mannheim, Beschluss vom 29. November 2016 – 5 S 2137/16.
VG Oldenburg, Urteil vom 6. Dezember 2017 – 5 A 2869/17.
VG Würzburg, Urteil vom 22.01.2019 – W 4 K 17.987.
OVG Lüneburg, Urteil vom 13. März 2019 – 12 LB 125/18.