Keine Lockerung für die Windenergie nach dem EuGH-Urteil
Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes
Das mit Spannung erwartete Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-473/19 und C-474/19 vom 4. März 2021 liegt vor. Das KNE beleuchtet die Entscheidung vor allem mit Blick auf die europäische Vogelschutzrichtlinie. Für die Windenergie an Land bleibt es weiterhin bei einer individuenbezogenen Betrachtung auf der Ebene des Verbotstatbestandes. Populationsbezogene Bewertungen können erst bei der Prüfung der Ausnahme herangezogen werden.
Ausgangslage
Am 4. März verkündete der Europäische Gerichtshof (EuGH) sein Urteil[1] zu einem Vorlageverfahren aus Schweden. Inhaltlich ging es um eine Abholzungsanmeldung, die eine nahezu komplette Rodung (Kahlschlag) eines Waldgebietes zum Inhalt hatte.[2] Das vorlegende schwedische Gericht wollte vom EuGH in diesem Kontext unter anderem wissen, ob die Begriffe „absichtliches Töten/Stören/Zerstören“ in Art. 5 Buchst. a bis d der Vogelschutzrichtlinie und in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie dahin auszulegen seien, dass sie eine innerstaatliche Praxis ausschließen, wonach in dem Fall, dass mit einer Maßnahme offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird, als Individuen bestimmter Arten zu töten oder zu stören, ein Risiko bestehen muss, dass sich die Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der Arten auswirkt, damit die Verbote Anwendung finden.[3]
Die Entscheidung des EuGH wurde mit Spannung erwartet, weil EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott, in ihren der Entscheidung vorausgehenden Schlussanträgen angeregt hatte, den Absichtsbegriff in der Vogelschutzrichtlinie (V-RL) der Europäischen Union enger auszulegen als dies der EuGH für die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) bereits entschieden hat.[4] Konkret schlug sie vor, dass Beeinträchtigungen von Vögeln, die nicht bezweckt, sondern nur in Kauf genommen würden, die Tötungs- und Zerstörungsverbote nach Art. 5 Buchst. a und b der V-RL nur erfüllen sollten, soweit dies notwendig sei, um diese Arten im Sinne von Art. 2 auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt.[5]
Zur Auslegung des Europäischen Gerichtshofs
Die Ausführungen des EuGH im betreffenden Urteil zum Begriff der Absicht beziehen sich nur auf die FFH-Richtlinie[6], und hier bleibt es bei dem seit der Caretta-Caretta-Entscheidung[7] etablierten Absichtsbegriff, der auch die unbezweckte Inkaufnahme von Tötungen besonders geschützter Arten umfasst. Damit hat der EuGH den Vorschlag von GeneralanwältinKokott nicht aufgegriffen, ihm gleichwohl auch keine ausdrückliche Absage erteilt.
Wäre der EuGH dem Vorschlag der Generalanwältin mit Blick auf die Vogelschutzrichtlinie gefolgt, wäre bereits bei der Frage, ob ein Verbotstatbestand nach Art. 5 Buchst. a und b V-RL erfüllt ist, eine populationsbezogene Betrachtung möglich geworden.
Dies hätte eine Lockerung des besonderen Artenschutzrechts auch für den Bereich der Windenergie an Land ermöglicht, denn die Betrachtung des einzelnen Vogels wäre nicht mehr in jedem Fall erforderlich gewesen. Inwieweit aber mit dem Vorschlag tatsächlich eine Entlastung der Genehmigungssituation von Windenergieanlagen an Land einhergegangen wäre, ist indes fraglich, da man bereits darüber streiten kann, ob sich die Ausführungen von Kokott lediglich auf die von ihr als „Allerweltsarten“ bezeichneten Vögel bezogen haben.[8] Ob unter diesen Begriff auch die windenergiesensiblen Groß- und Greifvogelarten fallen, zu deren Schutz Windenergieanlagen teils überhaupt nicht oder nur mit umfangreichen Abschaltauflegen errichtetet werden können, hätte weiteren Diskussionsstoff geboten.
Konsequenzen des Urteils in Bezug auf die Vogelschutzrichtlinie
Der EuGH betont in dem Urteil den individuenbezogenen Schutzansatz der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie und leitet diesen aus dem Wortlaut der Richtlinie ab (Exemplar, Eier)[9]. Die Vogelschutzrichtlinie spricht in Art. 1 Abs. 2 von „Vögel, ihre Eier, Nester und Lebensräume“. Eine unterschiedliche Sichtweise des EuGH bezüglich FFH-RL und V-RL ist daher unwahrscheinlich; der Individuenbezug ist beiden Richtlinien inhärent.
Der EuGH betont in der aktuellen Entscheidung auch das Verhältnis von Verbotstatbestand und Ausnahme im Hinblick auf Art. 12 und 16 der FFH-Richtlinie. Hier sei streng zwischen Verbotstatbestand (Betrachtung des Individuums) und Ausnahme (Einbeziehung des Erhaltungszustandes) zu trennen, um nicht die Prüfung der restriktiven Ausnahmevoraussetzungen zu umgehen.[10] Grundsätzlich findet sich in der Vogelschutzrichtlinie mit Art. 5 als Verbotstatbestand und Art. 9 als Ausnahmetatbestand eine vergleichbare Konstellation. Dies spricht auf den ersten Blick dafür, dass der EuGH, die für die FFH-RL etablierte, strenge Unterscheidung zwischen Verbotstatbestand und Ausnahme auch auf die V-RL übertragen würde.
Allerdings hat Generalanwältin Kokott auch im Hinblick auf die Ausnahmekonstellationen entscheidende Unterschiede zwischen FFH-RL und V-RL herausgearbeitet und hieraus auf einen engeren Absichtsbegriff auf Ebene des Verbotes geschlussfolgert.[11] So wird der Kreis der zu schützenden Arten in der FFH-RL sehr viel enger gezogen als in der V-RL, die generell alle europäischen Vogelarten schützt.[12] Gleichzeitig korrespondiert der strenge Schutzansatz der FFH-RL mit einem Ausnahmeregime, das – im Gegensatz zur V-RL[13] – einen weiten Ausnahmegrund enthält. Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. c FFH-RL ist es nämlich möglich, Ausnahmen auch aus „[…] aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“ zu gewähren. Eine solch weitreichende Formulierung findet sich im Katalog der Ausnahmegründe der Vogelschutzrichtlinie nicht.[14] Auch aus diesem Grund empfiehlt die Generalanwältin, eine enge Auslegung des Absichtsbegriffs für die V-RL bereits auf Ebene des Verbotstatbestandes.
Der EuGH ist auf diese differenzierende Auseinandersetzung der Generalanwältin zu FFH-RL und V-RL nicht eingegangen. Von einer Entscheidung zur Vogelschutzrichtlinie im Hinblick auf den Absichtsbegriff konnte der Gerichtshof absehen, weil die in Frage stehende schwedische Regelung nicht zwischen FFH- und Vogelschutzrichtlinie unterscheidet.[15] Es bleibt im Bereich der Spekulation, ob der EuGH im Bereich der Vogelschutzrichtlinie zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Derzeit bleibt es daher auch für die Windenergie an Land weiterhin bei einer individuenbezogenen Betrachtung auf der Ebene des Verbotstatbestandes. Populationsbezogene Bewertungen können erst bei der Prüfung der Ausnahme herangezogen werden.
Einige Kommentatoren haben eine mögliche Umsetzung des „Kokott-Vorschlages“, also eine populationsbezogene Betrachtung auf der Ebene der Verbotsnorm, bereits im Vorfeld des Urteils kritisch eingeschätzt, und diese Betrachtung weiterhin im Ausnahmeregime verortet.[16] Dies dürfte mit der Hoffnung verbunden gewesen sein, den erwähnten weiten Ausnahmegrund der FFH-Richtlinie so auch auf rechtssichere Art und Weise[17] für die Vogelschutzrichtlinie nutzbar machen zu können. Die von Generalanwältin Kokott identifizierten Spielräume in der Vogelschutzrichtlinie hätten sich damit im Ausnahmegrund des § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 BNatSchG (zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses) wiedergefunden[18], dessen Anwendung auf europäische Vogelarten derzeit mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden ist[19], da er, wie bereits erläutert, auf keine Entsprechung in der Vogelschutzrichtlinie trifft.
Fazit des KNE
Das Urteil hat weder den Wunsch nach Erleichterungen im Genehmigungsprozess von Windenergieanlagen an Land erfüllt, noch hat es für eine großzügigere Auslegung der Ausnahmegründe der Vogelschutzrichtlinie gesorgt. Die Rechtsunsicherheiten bezüglich des Ausnahmegrundes der zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses im Bundesnaturschutzgesetz bleiben bestehen.
Aufgrund der eher strengen Tendenz[20] des vorliegenden Urteils in der Auslegung von FFH- und Vogelschutzrichtlinie halten wir es für eher unwahrscheinlich, dass der EuGH in zukünftigen Verfahren Lockerungen bei der Auslegung der Verbotstatbestände der Vogelschutzrichtlinie zulassen wird. Teils wurde im Nachgang des Urteils daher gefordert, das Thema Klimaschutz und biologische Vielfalt im Rahmen des Green Deals der Europäischen Kommission zu verhandeln. Eine andere Stimme plädiert bereits für eine Änderung der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie mit einer eindeutigen Gewichtung zugunsten des Klimaschutzes.[21]
Es mag auch am zu beurteilenden Sachverhalt gelegen haben, dass der EuGH auf die differenzierende Betrachtung der Generalanwältin nicht eingegangen ist. Der EuGH hatte vorliegend einen extremen Eingriff in die Natur zu beurteilen, da ein komplettes Waldgebiet gerodet werden sollte.[22]
Bisher wurde der EuGH noch nicht mit dem diffizileren Dilemma konfrontiert, das im Ausbau der Windenergie als Maßnahme zum Klimaschutz ein Konflikt mit dem Arten- und speziell dem Vogelschutz liegen kann. Insbesondere musste der EuGH noch nicht entscheiden, ob bei diesem Zielkonflikt – denn beides, Klima- und Umwelt- und damit auch Artenschutz sind primärrechtliche Zielvorgaben – eine Abwägung zu Gunsten oder zu Lasten eines anderen Rechtsgutes erfolgen kann, und unter welchen Voraussetzungen sich welches Rechtsgut durchsetzt.
Wir regen an, eine Gelegenheit zu nutzen, um dem EuGH diese Fragen vorzulegen. Speziell im Hinblick auf die Ausnahmeregelung[23] der Vogelschutzrichtlinie und deren nationaler Umsetzung in § 45 Abs. 7 BNatSchG böte es sich an, den EuGH zu fragen, wie der Artenschutz und der Klimaschutz in Einklang zu bringen sind. Eine Klarstellung auf europäischer Ebene wäre sicherlich gewinnbringend, um mehr Rechtssicherheit für die Energiewende zu erlangen.
[1] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19. CURIA – Dokumente (europa.eu)
[2] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 21.
[3] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 29.
[4] EuGH, Urteil vom 30. Januar 2002 − Rs. C-103/00, Slg. 2002, I-1147 – (Caretta caretta), Rn. 36.
[5] Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 10. September 2020, Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 93. CURIA – Dokumente (europa.eu)
[6] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 48.
[7] EuGH, Urteil vom 30. Januar 2002 − Rs. C-103/00, Slg. 2002, I-1147 – (Caretta caretta).
[8] Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 10. September 2020, Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 81, 83.
[9] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 54.
[10] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 60.
[11] Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 10. September 2020, Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 86.
[12] Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 10. September 2020, Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 80 f.
[13] Siehe hierzu auch Hofmann (2020), S. 15 f.
[14] Zur Frage, ob ein solcher Ausnahmegrund in die V-RL hineingelesen werden könnte, vgl. grundlegend: Hofmann (2020). A. a. UMK (2020).
[15] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 48.
[16] Lau (2021), S. 31 f.; ähnlich Hendrischke (2020), 518.
[17] Zur Problematik s. o. Fn. 14.
[18] Lau (2021), S. 31.
[19] Siehe hierzu auch Hofmann (2020).
[20] Beispielsweise aufgrund des Rückgriffs auf die Erwägungsgründe der FFH-RL und den Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 und 2 FFH-RL. EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 62 ff.
[21] Urteil des EuGH – Stillstand im Artenschutzrecht? – Zugleich ein offener Brief an die Windenergiebranche, den eigenen Verband und an die Mandatsträger in allen Parlamenten, die die Energiewende wollen – MASLATON Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
[22] EuGH, Urteil vom 4. März 2021 – Rs. C‑473/19 und C‑474/19, Rn. 21. Bei Skogsstyrelsen (nationale Forstverwaltung, Schweden) wurde eine Abholzungsanmeldung betreffend ein Waldgebiets in der Gemeinde Härryda eingereicht. Diese Anmeldung betrifft einen Kahlschlag, was die Entfernung fast aller Bäume bedeutet.
[23] S. hierzu: Hendrischke (2020), 518.
Literaturverzeichnis
Hendrischke, O. (2020): Vogelschutz bei Windenergievorhaben. Natur und Landschaft (11) 2020, 518.
Hofmann, E. (2020): Artenschutz und Europarecht im Kontext der Windenergie. Der Klimaschutz und die Auslegung der Ausnahmeregelungen der Vogelschutzrichtlinie. KNE – Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende. https://www.naturschutz-energiewende.de/wp-content/uploads/KNE_Rechts-Gutachten_Artenschutz-und-Europarecht-im-Kontext-der-Windenergie_2020.pdf
Lau, M. (2021): Erleichterungen im besonderen Artenschutz. Natur und Recht, 43(1), 28–32. https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10357-020-3787-x
Umweltministerkonferenz – UMK. (2020): Hinweise zu den rechtlichen und fachlichen Ausnahme- Voraussetzungen nach § 45 Abs. 7 BNatSchG bei der Zulassung von Windenergievorhaben (23 S.).
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