Frage
Was sind Ablenkmaßnahmen, welche Vorgaben finden sich dazu im Bundesnaturschutzgesetz und welche in den Ländern? Ist die Vermeidungswirksamkeit von Ablenkmaßnahmen nach Anlage 1 Abschnitt 2 zu § 45b Absatz 1 bis 5 BNatSchG für Rot- und Schwarzmilan belegt?
Vollständige Antwort
Definition von Ablenkmaßnahmen
Als Ablenkmaßnahmen werden Maßnahmen bezeichnet, die darauf abzielen, die Flugaktivität von kollisionsgefährdeten Brutvögeln dauerhaft auf anlagenferne Flächen mit Ausweichnahrungshabitaten zu lenken.
Als Maßnahmen zur Ablenkung gelten die Neuanlage einer attraktiven Nahrungsfläche oder die Aufwertung einer bestehenden Nahrungsfläche durch Strukturanreicherung oder Bewirtschaftungsmaßnahmen. Die unattraktive Gestaltung des Mastfußbereichs kann die Ablenkwirkung unterstützen.
Ablenkmaßnahmen im Bundesnaturschutzgesetz und in den Leitfäden der Länder
Seit der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes 2022 findet sich im Maßnahmenkatalog der Anlage 1 Abschnitt 2 zu § 45b Absatz 1 bis 5 BNatSchG mit der „Anlage von attraktiven Ausweichnahrungshabitaten“ eine solche Schutzmaßnahme. Das Gesetz gibt vor, dass diese Maßnahme insbesondere für dreizehn der fünfzehn kollisionsgefährdeten Brutvogelarten wirksam ist, auch für den Rot- und Schwarzmilan. Das bedeutet, dass die Maßnahme „in der Regel“ dazu geeignet ist, das signifikant erhöhte Tötungsrisiko im zentralen Prüfbereich unter die Signifikanzschwelle zu senken. Einschränkend wird darauf hingewiesen, dass, je nach Konstellation und Art, eine Wirksamkeit auch „nur in Ergänzung mit weiteren Maßnahmen anzunehmen“ ist.
Der Maßnahmenbeschreibung in der Gesetzesanlage ist zu entnehmen, dass die Anlage von attraktiven Ausweichnahrungshabitaten oder die Umstellung auf langfristig extensiv bewirtschaftete Ablenkflächen „artspezifisch in ausreichend großem Umfang vorzunehmen“ ist. Außerdem muss über die Ausgestaltung der Fläche im Einzelfall entschieden werden.
Die Prüfung im Einzelfall kann also auch dazu führen, dass die Maßnahme als nicht hinreichend wirksam beurteilt wird und stattdessen eine andere Schutzmaßnahme gewählt werden muss, wie das OVG Koblenz[1] in einem gerichtlichen Verfahren urteilte.
In einigen Länderleitfäden wird die Wirksamkeit von Ablenkmaßnahmen ebenfalls angenommen, wie beispielsweise in Brandenburg (MLUK 2023, S. 6) oder Thüringen (TLUG 2017, S. 45). Dies gilt insbesondere für den Rotmilan. Für den Schwarzmilan wird häufig eine Übertragbarkeit der Maßnahmenwirksamkeit aufgrund der Ähnlichkeiten im Verhalten und im Habitatanspruch unterstellt. Manche Länderleitfäden, wie in Nordrhein-Westfalen (MUNV NW und LANUV NW 2024, S. 42) oder Sachsen (SMEKUL SN 2022, S. 26) setzen für eine Wirksamkeit von Ablenkmaßnahmen fundierte Kenntnisse der potenziellen oder tatsächlichen Raumnutzung der Individuen voraus.
Die Länderleitfäden enthalten zum Teil sehr spezifische Maßnahmenvorschläge für die Schaffung von Nahrungshabitaten. Diese unterscheiden sich aber stark voneinander. Die großen Diskrepanzen in den Empfehlungen lassen sich neben dem Mangel an gesichertem Wissen unter anderem darauf zurückführen, dass die tatsächliche Attraktionswirkung einer Fläche über einen längeren Zeitraum von zahlreichen Faktoren abhängig ist. Zum einen hängt sie von der Gestaltung der Nahrungshabitate ab, zum anderen wird die Wirksamkeit auch von den Gegebenheiten vor Ort (Nahrungsangebot, Landschaftsausstattung, Lage, potenzielle Störeffekte) beeinflusst.
Sowohl im der Anlage 1 Abschnitt 2 zu § 45b Absatz 1 bis 5 BNatSchG als auch in zahlreichen Länderleitfäden wird darauf hingewiesen, dass die Anlage von attraktiven Ausweichnahrungshabitaten allein nicht ausreichen könnte. Als ergänzende Maßnahmen werden in den Leitfäden beispielsweise die unattraktive Gestaltung des Mastfußbereichs bzw. des direkten Anlagenumfeldes genannt. Aus fachlicher Sicht sollten sich im vom Rotor überstrichenen Bereich keinerlei attraktive Nahrungshabitate (also auch keine Misthaufen, Silagemieten oder Strohlager o. Ä.) befinden. Eine entsprechende rechtliche Regelung, um dies sicherzustellen, gibt es aber nicht.
Fachwissenschaftlicher Nachweis der Vermeidungswirksamkeit
In früheren Studien zur Wirksamkeit von Schutz- bzw. Vermeidungsmaßnahmen (TU Berlin et al. 2015, S. 55 ff.; Blew et al. 2018, S. 37 ff.) sind auch Ablenkmaßnahmen zur „Weglockung“ betroffener Brutvögel von Windenergieanlagen aufgeführt. Nach TU Berlin et al. (ebd.) finde die Maßnahme weit verbreitete Anerkennung und Anwendung in den Ländern. Empirisch belastbare Studien und Aussagen können die Autorinnen und Autoren jedoch nicht angeben.
Im Rahmen eines FuE-Projektes untersuchten Blew et al. (2018, S. 37 ff.) Vermeidungsmaßnahmen gegen Vogelkollisionen an Windenergieanlagen, formulierten Hypothesen zu deren Wirksamkeit und überprüften, wie die Wirksamkeit belegt ist. Mit Hilfe einer so genannten „Evidenzgraduierung“ ordneten sie die Belastbbarkeit der fachwissenschaftlichen Nachweise ein. Zur Schaffung von Nahrungshabitaten außerhalb von Windparks finden sich allenfalls einzelne Fallstudien und Expertenempfehlungen (ebd. S. 37 f.). Das Ausmaß der Lenkungswirkung durch Bewirtschaftung sei bisher „kaum quantifiziert“. Dennoch empfehlen die Autorinnen und Autoren den Einsatz der Maßnahme in Übereinstimmung mit den Vorgaben in zahlreichen Leitfäden der Bundesländer (vgl. ebd., S. 39). Durch die Kombination von Ablenkmaßnahmen mit weiteren Maßnahmen könne die Maßnahmenwirksamkeit verstärkt werden (ebd., S. 37).
Im Rahmen eines FuE-Projektes sollten Kenntnislücken über die Wirksamkeit für den Rotmilan geschlossen werden (vgl. Mammen et al. 2023, S. 18). Die Studie fand mit telemetrierten Rotmilanen in drei Untersuchungsgebieten in Sachsen-Anhalt und im Saarland statt. Untersucht wurde nicht nur die Anlage von Ablenkflächen, sondern insbesondere die Effekte der Bewirtschaftung. Dabei konnte die Attraktionswirkung von bewirtschafteten Ablenkflächen zwar für beide Arten bestätigt werden. Hinsichtlich der flugaktiven Zeit pro Tag bewirkten die Ablenkmaßnahmen für Rotmilane allerdings keine und für Schwarzmilane nur eine geringe Änderung der Raumnutzung. Eine ausreichende Lenkungswirkung auf Milane durch die bewirtschafteten Ablenkflächen konnte aufgrund der großen Aktionsräume und der hohen Individualität der Habitatnutzung der besenderten Tiere in intensiv bewirtschafteter Kultur- und Agrarlandschaft daher nicht bestätigt werden (Mammen et al. 2023, S. 197). Diese Untersuchung zeigt, dass zwar eine Verbesserung der Nahrungsverfügbarkeit durch diese Maßnahme möglich ist und von der Bewirtschaftung auch eine anziehende Wirkung ausgeht, sich aber daraus nicht zwangsläufig eine hinreichende Wirksamkeit zur Senkung des Kollisionsrisikos – unter die Signifikanzschwelle – ableiten lässt (BfN 2024, S. 3). Mammen et al. (2023, S. 198) kommen vor dem Hintergrund ihrer Untersuchungsergebnisse zu der Einschätzung, dass die Ablenkung als Ergänzung zu anderen Maßnahmen eher wenig erfolgversprechend ist.
Fazit
Die Umsetzung einer Ablenkmaßnahme zur Senkung des Tötungsrisikos unter die Signifikanzschwelle ist nach den Regelungen im BNatSchG in der Regel rechtlich zulässig. Die langjährige Etablierung in der Praxis geht im Allgemeinen offenbar mit der Annahme einer hohen Wirksamkeit einher (Wulfert et al. 2023, S. 3), wenngleich sie aus fachlicher Sicht nicht ausreichend belegt ist.
Für Rot- und Schwarzmilane sollte die Maßnahme nur unter Vorbehalt eingesetzt werden. Selbst wenn zugleich Bewirtschaftungsmaßnahmen auf der Fläche durchgeführt werden, könnte der Ablenkeffekt nicht ausreichen. Die Kombination mit anderen Maßnahmen, die den Ablenkeffekt unterstützen, ist anzuraten.
Ob die Anlage von attraktiven Nahrungshabitaten als Ablenkmaßnahme ausreicht und wie sie ausgestaltet sein muss, sollte stets im Einzelfall geprüft und entschieden werden. Eine allgemeingültige Empfehlung ist kaum möglich.
[1] OVG Koblenz, Urteil v. 20.08.2024 – 1 C 10923/22.OVG – Rn. 55 f., juris.
Quellen
BfN – Bundesamt für Naturschutz (2024): Vermeiden oder Lenken: Raumnutzungsverhalten von Milanen in der Nähe von Windparks. PraxisINFO 9. Bonn. 4 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
Blew, J., Albrecht, K., Reichenbach, M., Bußler, S., Grünkorn, T. (2018): Wirksamkeit von Maßnahmen gegen Vogelkollisionen an Windenergieanlagen. BfN-Skripten 518. BfN – Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.). Bonn – Bad Godesberg. 128 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
Mammen, U., Böhm, N., Mammen, K., Uhl, R., Arbeiter, S., Nagl, D., Resetaritz, A., Lüttmann, J. (2023): BfN-Schrift „Prüfung der Wirksamkeit von Vermeidungsmaßnahmen zur Reduzierung des Tötungsrisikos von Milanen bei Windkraftanlagen“. BfN-Schriften 669. BfN – Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.), Bonn. 241 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
MLUK – Ministerium für Landwirtschaft Umwelt und Klimaschutz des Landes Brandenburg (2023): Erlass zum Artenschutz in Genehmigungsverfahren für Windenergieanlagen (AGW-Erlass). Anwendung der §§ 45b bis 45d Bundesnaturschutzgesetz sowie Maßgaben für die artenschutzrechtliche Prüfung in Bezug auf Vögel und Fledermäuse in Genehmigungsverfahren von Windenergieanlagen. 23 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
MUNV NW – Ministerium für Umwelt Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, LANUV NW – Landesamt für Natur Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (2024): Leitfaden „Umsetzung des Arten- und Habitatschutzes bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen in NRW – Modul A“. Fassung: 12.04.2024, 2. Änderung. 94 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
SMEKUL SN – Sächsisches Staatsministerium für Energie Klimaschutz Umwelt und Landwirtschaft (2022): Vogelschutz an Windenergieanlagen im Freistaat Sachsen – Fortschreibung (LVW II). 67 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
TLUG – Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie (2017): Avifaunistischer Fachbeitrag zur Genehmigung von Windenergieanlagen (WEA) in Thüringen. 61 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
TU Berlin − Technische Universität Berlin, FA Wind − Fachagentur Windenergie an Land, WWU Münster (2015): Vermeidungsmaßnahmen bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen. Bundesweiter Katalog von Maßnahmen zur Verhinderung des Eintritts von artenschutzrechtlichen Verbotstatbeständen nach § 44 BNatSchG. Berlin. 124 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
Wulfert, K., Vaut, L., Köstermeyer, H., Blew, J., Lau, M. (2023): Handout Artenschutz und Windenergieausbau – Anordnung von Minderungsmaßnahmen bei der Genehmigung von WEA in Windenergiegebieten, die den Voraussetzungen des § 6 WindBG entsprechen. 2. Fassung vom 21.09.2023. Bosch & Partner GmbH, Berlin. 29 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 26.03.2025).
Gerichtliche Entscheidungen
OVG Koblenz, Urteil v. 20.8.2024 – 1 C 10923/22.OVG – Rn. 55 f., juris.