DOSSIER

„PROGRESS-Studie“ –
KNE-Befragung zum Stand des Wissenstransfers

Veröffentlicht: Januar 2018
Autoren: Eva Schuster, Dr. Elke Bruns

Das KNE führte 2017 eine Befragung zur „PROGRESS-Studie“ durch, um den Verbreitungsgrad von Ergebnissen der Studie sowie bestehende Unklarheiten über deren Anwendung zu erfassen und daraus Rückschlüsse auf den Vermittlungsbedarf zwischen Wissenschaft und Praxis zu ziehen. Rund 160 Vertreterinnen und Vertreter der Naturschutz- und Windenergieverbände, Vogelschutzwarten, Naturschutzbehörden, Planungs- und Genehmigungsbehörden, regionalen Planungsverbände, Gutachterbüros und Projektierer bzw. Betreiber aus allen Bundesländern nahmen an der Befragung teil.

Problemaufriss

Die durch das Bundesumweltministerium als Forschungsverbundprojekt geförderte1 „PROGRESS-Studie“ startete im Jahr 2011 und wurde im Juni 2016 veröffentlicht (Grünkorn et al. 2016). Im Vordergrund stand eine Validierung von Methoden zur Einschätzung von Vogel-Kollisionsraten an Windenergieanlagen (WEA). Das Forschungsprojekt sollte zur Klärung von Umfang und Ausmaß der Kollisionsrisiken von Vögeln beitragen und bestehende Prognoseunsicherheiten reduzieren. Bereits während der Bearbeitung traten die unterschiedlichen Erwartungen an das Projekt zu Tage: Während Vertreter des Naturschutzes davon ausgingen, dass sich das Gefährdungspotenzial von WEA für Vögel bestätigen würde, erwarteten Vertreter der Windenergie Belege dafür, dass die Kollisionsrisiken – zumindest

bei einigen Arten – überschätzt würden. Die wissenschaftlichen Forschungsziele traten angesichts der kontroversen Erwartungen und der vermuteten Konsequenzen für die Planung und Genehmigung von WEA in den Hintergrund. Hinzu kam, dass die Gültigkeit und Übertragbarkeit der gefundenen Erkenntnisse angezweifelt wurden. Die Komplexität der untersuchten Sachverhalte und angewandten Methoden, erwartete und unerwartete Ergebnisse eröffneten Spielräume für die Auslegung. Potenzielle Anwender der Ergebnisse waren verunsichert, welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen zu ziehen wären. Diese unübersichtliche Situation empfanden zahlreiche Akteure als kontraproduktiv und unbefriedigend.

Strittige Punkte zum Zeitpunkt der Befragung

Im November 2016 führte die Fachagentur Windenergie an Land eine Diskussionsveranstaltung zu den Ergebnissen der „PROGRESS-Studie“ durch. Ziel der Veranstaltung war es zum einen, die neuen Erkenntnisse der Studie darzulegen, zu diskutieren und zu bewerten. Zum anderen sollten mögliche planungsrelevante Konsequenzen für die Praxis behandelt werden. Die Ergebnisse wurden im April 2017 veröffentlicht (FA Wind 2017).
Während der Veranstaltung artikulierten vor allem die Vertreter von Naturschutzbehörden den Bedarf nach Hilfestellungen beim Umgang mit den Erkenntnissen der Studie. Im Zentrum stand die Frage, wie mit dem in den Untersuchungsräumen Norddeutschlands festgestellten Kollisionsrisiko des Mäusebussards – angesichts des nahezu flächendeckenden Vorkommens dieser Art – umzugehen sei.

Die Vertreterin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) stellte im Rahmen der abschließenden Diskussionsrunde klar, dass der Mäusebussard im Regelfall keine Planungsrelevanz habe und er daher derzeit nicht regelmäßig erfasst werden müsse. Lediglich in Dichtezentren des Mäusebussards könne eine Planungsrelevanz gegeben und eine Erfassung notwendig sein (FA Wind 2017). Das „Helgoländer Papier“ (LAG VSW 2015) führt den Mäusebussard bisher nicht als kollisionssensible Art auf. Bisher sei der Mäusebussard nur in der niedersächsischen Handlungsempfehlung zum Ausbau der Windenergienutzung (NLT 2014) als zu erfassende Art genannt.

Eine Positionierung der Länderfachbehörden für Naturschutz sowie der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten, wie hinsichtlich der neuen Ergebnisse zukünftig mit dem Mäusebussard umgegangen werden solle, steht noch aus. Die Projektierer bekundeten grundsätzlich Bereitschaft sich bei der Windenergieplanung mit dem Mäusebussard zu befassen. Vielfach werde er bereits mitkartiert. Würden jedoch Abstandsempfehlungen für den flächendeckend vorkommenden Mäusebussard zum Tragen kommen, würde dies den Ausbau der WEA allerdings zum Erliegen bringen.

Ziel der Befragung

Etwa ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der Studie führte das KNE eine Befragung unter den Adressaten und potenziellen Anwendern der „PROGRESS-Studie“ durch. Diese sollte Aufschluss über die Verbreitung und den Kenntnisstand über die Ergebnisse in der Praxis geben und eine Einschätzung ermöglichen, welcher Bedarf für einen Wissenstransfer besteht und wie dieser ausgerichtet sein sollte. Mit Hilfe eines Fragebogens wurde erfasst, ob und wenn ja, welche Anwender und Anwenderinnen sich bereits mit den Studienergebnissen befasst hatten,

wie der Verbreitungsgrad der Ergebnisse einzuschätzen ist und bezüglich welcher Aussagen und Sachverhalte Unklarheiten bzw. abweichende Auffassungen bestehen. Aus den Ergebnissen sollten Rückschlüsse zum einen auf den Vermittlungs- bzw. Transferbedarf der Studienergebnisse und zum anderen auf die dafür infrage kommenden Formate gezogen werden. Im Folgenden werden jeweils das Ziel der gestellten Frage sowie wichtige Erkenntnisse und Kernaussagen, die aus den gegebenen Antworten abgeleitet wurden, kursiv dargestellt.

Einordnung der Ergebnisse

Die Veröffentlichung der „PROGRESS-Studie“ hat für kontroverse Diskussionen gesorgt, da sie in Teilen den bisherigen Empfehlungen des naturschutzfachlichen Regelwerks widerspricht und sich möglicherweise – bei breiter Berücksichtigung – auf den Planungs- und Genehmigungsprozess von WEA restriktiv auswirken könnte.

Aktuell lösen sowohl Vorschläge zur Erweiterung der Liste kollisionsempfindlicher Arten (z. B. um den Mäusebussard) als auch die Streichung einzelner Arten erhebliche Kontroversen aus.  Die Auffassungen darü- ber, welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Studie angemessen bzw. erforderlich sind, gehen in den befragten Nutzergruppen (z. T. aber auch innerhalb dieser) auseinander.

Kontroverse Auffassungen bestehen, wie die Befragung und die ausgewerteten Diskussionsbeiträge (u. a. FA Wind 2017) zeigen, über

  • fachwissenschaftliche Aspekte (Sind die Methoden valide, die Ergebnisse repräsentativ und belastbar? Welchen Geltungsanspruch haben sie?),
  • anwendungsbezogene Aspekte (Sind die Ergebnisse in der Praxis anwendbar bzw. handhabbar? Tragen sie zum Abbau von Hemmnissen für den Windenergieausbau bzw. zur Lösung aktueller artenschutzrechtlicher Fragen bei?) und
  • politische Aspekte (Was würde die Anwendung der Ergebnisse für die Anlagenbetreiber und den Windenergieausbau bedeuten? Wie passen die Ergebnisse in das bestehende Regelwerk?).

Am Beispiel der „PROGRESS-Studie“ zeigt sich, dass es für den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse darauf ankommt, einer interessengeleiteten Interpretation von Teilergebnissen – mit entsprechenden Rückwirkungen auf deren (Nicht-)Implementierung – durch eine sorgfältige Kommunikationsstrategie vorzubeugen. In vielen Fällen hat der „Transfer“ bzw. die Kommunikation der Ergebnisse in den Forschungsprojekten einen zu geringen Stellenwert. Allein die Studienergebnisse allgemeinverständlich zu formulieren, reicht in einem kontroversen Handlungsfeld wie dem Windenergieausbau unter Umständen nicht aus, um Fehlinterpretationen oder eine interessensgeleitete Verwendung der Ergebnisse zu verhindern. Das KNE hat mit seiner Befragung zunächst die fachwissenschaftlichen Themen und Ergebnisse angesprochen und versucht, die Rahmenbedingungen für deren Anwendung in der Praxis herauszuarbeiten. In den „qualitativen“ Antworten und Erläuterungen zeigt sich aber, dass energie- oder naturschutzpolitische Erwägungen bei der fachwissenschaftlichen Einschätzung eine wichtige Rolle spielen und sich fachwissenschaftliche und interessensgeleitete Argumentationslinien vermischen. So scheinen zum Beispiel die grundlegende Kritik am Untersuchungsdesign der Studie und die Zweifel an den Geltungsansprüchen mit der Befürchtung verbunden zu sein, die Studienergebnisse könnten unreflektiert umgesetzt werden. Die Befragung hat mit der befragten Stichprobe nur einen ersten Einblick in die Rezeption der Studie in der Praxis ermöglicht und ist nicht repräsentativ. Dennoch ermöglicht sie Erkenntnisse darüber, wie der Prozess des Wissenstransfers in die Praxis untersützt werden kann

Schlussfolgerungen für die Arbeit des KNE

  1. Das KNE wird sich weiterhin mit der Aufbereitung des Standes der Forschung zur Ermittlung von Vogel-Kollisionsrisiken einschlägiger nationaler und internationaler Fachveröffentlichungen befassen. Als ersten Schritt erstellte das KNE einen Steckbrief zur „PROGRESS-Studie“ in dem die wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammengefasst und soweit möglich, eingeordnet wurden. Das Papier wurde mit den Autoren abgestimmt. – https://www.naturschutz-energiewende.de/fachwissen/auf-einen-blick/
  2. Mit dem Dokument 10 Fragen–10 Antworten zur „PROGRESS-Studie“ greift das KNE einzelne fachliche Aspekte der „PROGRESS-Studie“ auf, über die Unklarheiten bestehen oder die unterschiedlich interpretiert werden. Ziel ist es, den Diskurs der Fachöffentlichkeit zu unterstützen und weiter zu versachlichen. – https://www.naturschutz-energiewende.de/fachwissen/auf-einen-blick/
  3. Der Prozess der Einordnung der Ergebnisse der „PROGRESS-Studie“ (hier: Relevanz für behördliche Entscheidungen) ist noch nicht abgeschlossen. Das KNE kann den Prozess der Entscheidungsfindung über notwendige Anpassungen des Regelwerks durch Fach- und Sondierungsgespräche unterstützen und somit ein Forum für den Austausch bieten.

Das komplette Dossier „PROGRESS-Studie“ (Grünkorn et al. 2016) KNE-Befragung zum Stand des Wissenstransfers, finden Sie im PDF zum Download.